Letztes Jahr in Marienbad

 L’année dernière à Marienbad

 Platz 99

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 (Frankreich / Italien, 1961)

 Regie: Alain Resnais

Drehbuch: Alain Robbe-Grillet

Kamera: Sacha Vierny

Musik: Francis Seyrig

Schnitt: Jasmine Chasney & Henri Colpi

Produktion: Pierre Courau & Raymond Froment

 Darsteller: Delphine Seyrig, Giorgio Albertazzi & Sacha Pitoëff

 Auf keinen Film der jemals gedreht wurde treffen folgende Worte wahrheitsgemäßer zu: Dieser Film ist ein Traum. Und jeder sieht ihn anders. Keine Angst, damit ist nichts verraten oder vorweggenommen, denn dieser Film verrät nichts und er nimmt auch nichts vorweg: Er ist ein Rätsel und würden wir euch die Auflösung dieses Rätsels beschreiben, so wären wir wohl die ersten die das könnten, bei weitem aber nicht die ersten die es probiert hätten.

 Christopher Nolan (britischer Regisseur: Memento, Prestige, The Dark Knight) bezeichnete, nach der Bedeutung seines Films Inception gefragt, diesen als „Letztes Jahr in Marienbad mit Explosionen“. Dazu sei folgendes gesagt: Beide Filme beschäftigen sich mit dem Unterbewusstsein, der Erinnerung und dem Träumen. Aber abgesehen davon, dass eine Vielzahl von Explosionen in Letztes Jahr in Marienbad extrem unangebracht wären, liegt der Unterschied zwischen beiden Filmen vor allem darin, dass in Inception alles erklärt wird und zwar sogar durch die Darsteller selbst! Und während Christopher Nolan mit Journalisten über seinen Film diskutiert, schweigt sich Alain Resnais diesbezüglich seit 1961 aus. Das macht den Unterschied in der Ausstrahlung dieser beiden Werke aus. 

 Um fair zu sein muss jedoch auch gesagt werden, dass für Letztes Jahr in Marienbad (ebenso wie für Inception) gilt: Entscheidend für die Wirkung des Films ist das Wie, sehr viel mehr als das Was.

 Es geht um eine junge Frau und zwei Männer (ihren potentiellen Ehemann und ihren potentiellen Liebhaber). Sie durchstreift die Räume und Anlagen eines Grand Hotels und wühlt in ihren Erinnerungen auf der Suche nach einer Antwort auf die Worte jenes „fremden“ Mannes. Dieser behauptet sie hätten sich beide vor einem Jahr in Marienbad kennen gelernt und sie hätte ihm schließlich versprochen ihm zu folgen und ihren „Begleiter/Ehemann“ zu verlassen.

Dieser „Ehemann“ fordert seinen Rivalen wiederholt zu einem Streichholz-Spiel heraus, dass heute unter dem Namen „Marienbad“ bekannt ist. Rätsel über Rätsel und alles läuft auf die Erinnerung der Frau und eine von ihr zu treffende Entscheidung hinaus. Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Realität, Erinnerungen und verdrängte Gedanken vermischen sich dabei so virtuos miteinander, dass man während man ihn sieht gar nicht darüber nachdenken kann was man eigentlich sieht und erst wenn der Film wirklich vorbei ist geht es los: Das Verstehen. Der Eindruck von Letztes Jahr in Marienbad kann Tage, Wochen, Jahre, später noch nachwirken; man kann ihn für sich selbst lösen und ihm damit eine eigene, persönliche, Bedeutung geben – aber: Jeder Mensch der ihn sah, hat einen anderen Film gesehen als alle anderen. Das ist der große Verdienst von Letztes Jahr in Marienbad.

 Jeder der an diesem Film beteiligt war, angefangen bei Alain Resnais, wollte die Art und Weise, die Möglichkeit einen Film zu erzählen, verändern. Das Drehbuch von Robbe-Grillet ist ein Meilenstein der Kreativität dieser Zunft, die Kameraarbeit von Sacha Vierny kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, sie gehört zu den größten Leistungen der Filmgeschichte und wahrscheinlich können nur Menschen die sich intensiv mit dem Medium Film beschäftigt haben sehen wie aufwendig und schwierig war, was er da tat – denn es sieht so leichtfüßig aus!

 Es handelt sich bei Letztes Jahr in Marienbad nicht um einen Unterhaltungsfilm, der Film ist höchst exzentrisch und versucht alle gängigen Filmgesetze ad absurdum zu führen; doch er ist ein König in seinem Metier und es gibt nicht viele die sich mit ihm messen können. Warum? Weil er von der Komplexität unserer Gedanken und unseres Unterbewusstseins erzählt und dabei im, und mit dem, Bewusstsein seiner Zuschauer spielt. Dabei ist es, ohne die Erhabenheit den Film im Kino zu sehen herabstufen zu wollen, nahezu egal wie und wann man ihn sieht, (es sei mir verziehen) aber selbst am Laptop unter Kopfhörern ist der Film ein Erlebnis sonder gleichen. Das konnte Resnais nicht wissen aber es offenbart die Zeitlosigkeit seines Films.

 Als Fazit könnte man sagen: Wäre die Filmgeschichte eine Religion, dann wäre Letztes Jahr in Marienbad so etwas wie Moses’ Begegnung mit dem brennenden Dornbusch: bei weitem nicht das erste Aufeinandertreffen mit Gott, aber eines der einprägsamsten und mysteriösesten!

 

Anm.d.Red.: Die Kostüme von Hauptdarstellerin Delphine Seyrig wurden von Coco Chanel entworfen.

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