Kuss und Zensur

Liebesszenen in Filmen sind schon von jeher Steine des Anstoßes für jene, angeblich moralischen Instanzen; doch was ist an der menschlichen Liebe eigentlich so verwerflich und verdorben?

Der erste Film in dem geküsst wurde stammt aus dem Jahr 1896 und heißt bezeichnenderweise The Kiss (Regie: William Heise, USA). Der Film ist knapp 47 Sekunden lang und enthält eigentlich nicht viel mehr als diesen Kuss – dennoch löste er eine Welle der Entrüstung aus, veranlasste Menschen aber gleichzeitig dazu, über das Küssen zu sprechen (und über das Küssen zu sprechen führt entweder zu Frust oder Lust!).
Viele fanden es schlichtweg unästhetisch, andere moralisch fragwürdig und wieder andere (man muss es in seiner Zeit betrachten) erotisierend.

Wenn man sich mit der Thematik beschäftigt realisiert man jedoch noch etwas anderes: die Menschen der westlichen Welt dieser Zeit haben sich natürlich auch geküsst – aber meistens zu Hause, kaum in der Öffentlichkeit und vor allem: Wie haben sie sich geküsst? Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass die vielen Filmküsse und herzzerreißenden Momente unser eigenes Handeln verwässert und verändert haben, dass wir uns (angefangen bei unseren Groß- oder Urgroßeltern, die als erste Generationen gewohnheitsmäßig Filme sahen) an Filmen orientiert haben – in der Art, wie wir unsere Liebe zeigen bzw. wie wir lieben. Und wir wissen auch nicht mehr mit Sicherheit wie sich Menschen geküsst haben bevor sie anderen exzessiv dabei zuschauen konnten.

Denn schließlich verschmähten die Kritiker weniger das Küssen an sich, als vielmehr die Tatsache, dass Menschen im Kino anderen Personen in solch einem intimen Moment zuschauen konnten/wollten. Der Vorwurf ist nicht leicht von der Hand zu weisen: Wer hat sich schließlich schon einmal zu einem verliebten Pärchen auf die Parkbank gesetzt um diesen dann konzentriert und so nah wie möglich beim Knutschen zuzusehen?

Und so kam es zu einer nicht weniger interessanten Erscheinung in der Filmgeschichte: Die Geburt der Zensur. Sie erblickte das Licht der Welt um Unanständiges, Unmoralisches und Unangebrachtes im Film zu verhindern bzw. im Nachhinein zu entfernen. Das wohl berühmteste Zensurvorhaben war der 1934 von amerikanischer Kirche und Republikaner Will H. Hays ins Leben gerufene Production Code (in Anlehnung an seinen „sympathischen“ Gründer oft auch Hays Code genannt)! Dieser Code gab unter anderem vor, wie geküsst werden durfte: Nicht leidenschaftlich, nicht exzessiv, nicht länger als 3 Sekunden (!), nur wenn beide stehen oder sitzen usw.! Man kann sich über die Richtigkeit solcher Vorhaben vortrefflich streiten (vielleicht hat es uns verdorben – vielleicht hat es uns die Liebe näher gebracht etc.) aber man kann die menschliche Neugier, den Tatendrang und den Zeitgeist nicht verhindern und so bekam diese Zensur das was sie heraufbeschworen hatten und was sie schließlich auch verdienten: Alfred Hitchcock.

Hitchcock hat es sich oft zum Spaß gemacht, Bestimmungen des Hays Code der Lächerlichkeit Preis zu geben. Den „Kuss-Gesetzen“ nahm er sich 1946 in seinem Film Berüchtigt (Notorious) an und mit diesem beendet er diese, von Politik und Kirche ins Leben gerufene, Farce: Er inszenierte eine dreiminütige (!) Kussszene und ließ seine Hauptdarsteller alle 2,9 bis 3 Sekunden kurz die Lippen trennen, etwas zueinander sagen (belangloses über das Essen und den Abwasch) und sich umgehend weiter küssen.

Die Vorstellung, wie eine Gruppe Zensoren mit Stoppuhr bewaffnet vor einer Leinwand sitzt um sich wieder und wieder eine dreiminütige Kussszene anzusehen, nur um zu überprüfen ob sich die Lippen der Darsteller länger als 3 Sekunden berühren (was sie nicht tun!) ist witziger als mancher Film.

Die Szene brachte Hitchcock in der Filmwelt nicht nur unsagbar viele Sympathien ein und führte die Zensur rasanter dem Ende entgegen als jede philosophische Diskussion darüber – sie hat dem Küssen auch ein Denkmal gesetzt. Bravo.

Anm.d.Red.: Unter dem Gesichtspunkt des Küssens und der Zensur sollte man sich auch Giuseppe Tornatores Kino-Liebeserklärung „Cinema Paradiso“ ansehen. Dessen Ende, wie kein anderer Film, die Magie des Küssens im Film veranschaulicht.

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